Foto: © Hannes Kilian, courtesy Stuttgarter Ballett/Staatstheater Stuttgart

courtesy Stuttgarter Ballett/Staatstheater Stuttgart
John Cranko
John Cranko (*15.08.1927, Rustenburg / Südafrika, Ɨ 26.06.1973 auf dem Rückflug von Philadelphia nach Stuttgart)

Ballettmeisterin Anne Woolliams und Marcia Haydée, 1969
© Hannes Kilian, courtesy Stuttgarter Ballett/Staatstheater Stuttgart
Wer war John Cranko, dieser Mann, der in nur 12 Jahren das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt, Meisterwerke des 20. Jahrhunderts geschaffen und Pionierarbeit für das Ballett in Deutschland geleistet hat?
Der Choreograph, der 1961 nach Stuttgart kam, fand zunächst eine unscheinbare, unbekannte „Opernballettcompagnie“ vor; bei seinem plötzlichen Tod 1973 hinterließ er das weltberühmte Stuttgarter Ballett mit einem von Tänzern wie Publikum geliebten Repertoire. Was nahezu unvorstellbare Leistungen sind, geht zurück auf einen Menschen mit einer weitsichtigen Vision, eine große Warmherzigkeit und bestechendem Charisma.
Anfänge
Der am 15. August 1927 in Rustenburg (Südafrika) geborene Cranko war zwar sich früh auf das Choreographieren. Aufgewachsen in Johannesburg, trat er im August 1944 der Ballettschule der Universität Kapstadt bei und startete bereits dort choreographische Versuche. Auf sein erstes Ballett The Soldier’s Tale (1944) zur Musik von Igor Strawinsky folgten zwei weitere Werke in kleinem Rahmen, bevor Cranko 1946 nach London übersiedelte und beim Sadler’s Wells Theatre Ballet (das heutige Royal Ballet) ein Engagement erhielt. Dort war er zunächst als Tänzer tätig, aber er nutzte jede Gelegenheit um zu choreographieren.
Da die Konkurrenz in der britischen Ballettmetropole groß war, boten sich ihm zunächst wenige Möglichkeiten. Doch mit Tritsch Tratsch (1949), das in nur drei Minuten von zwei um die Gunst eines Mädchens buhlenden Matrosen erzählt, hatte Cranko solch einen Erfolg, dass er weitere Aufträge erhielt und zur Spielzeit 1950/51 mit nur 23 Jahren zum Hauschoreographen des Sadler’s Wells ernannt wurde. Die folgenden Ballette Pineapple Poll (1951) und The Lady and the Fool (1954) für die Londoner Compagnie sowie La Belle Helene (1955) für die Pariser Oper ließen bereits Crankos Talent erahnen, Geschichten mit komplexen Charakteren und Humor überzeugend zu erzählen. 1957 erhielt Cranko die Chance, ein abendfüllendes Ballett für das Royal Ballet zu kreieren. Er entschied sich für ein „mythisches Märchen”, wie er es selbst nannte. Der Pagodenprinz (1957) zu einer Auftragskomposition von Benjamin Britten erregte Aufmerksamkeit auch bei anderen Ballettcompagnien, die Cranko als Choreographen einluden. So zum Beispiel die Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, wo Der Pagodenprinz 1960 seine deutsche Erstaufführung erlebte – kurz bevor Generalintendant Walter Erich Schäfer Cranko schließlich am 16. Januar 1961 als Ballettdirektor verpflichtete.

mit Richard Cragun an der MET in New York, 1969
Direktor und Freund
Im Laufe der nächsten Jahre ereignete sich aus Sicht Schäfers Folgendes: „Cranko arbeitete still am Aufbau seines Balletts. Bis im Herbst 1962 plötzlich Romeo und Julia aufflammte wie ein Meteor, und mit einem Schlag drehten sich die Köpfe aller Ballett-Kenner der Welt nach Stuttgart, einer Stadt, die seit zwei Jahrhunderten für das Ballett tot gewesen war. Und nicht allein erschien eine außerordentliche Choreographie, es erschien ein Ensemble, das höchster Beachtung wert war.” Zu Beginn seiner Stuttgarter Zeit hatte Cranko eine Schar von Tänzern um sich gesammelt, die ihn inspirierten: insbesondere Marcia Haydée, für die er die großen Partien in seinen Handlungsballetten kreieren sollte, aber auch Egon Madsen, Richard Cragun sowie Birgit Keil, die untrennbar mit seinem Namen verbunden und durch das Ballett Initialen R.B.M.E. (1972) verewigt sind. Ein Ballett wie eine Ode an die Freundschaft, denn seine Tänzer waren für ihn mehr als bloße Mitarbeiter. Cranko sah in ihnen großes Potenzial und vertraute ihnen grenzenlos – auch wenn diese selbst noch nicht wussten, was in ihnen steckte. Laut Haydée gab er ihr „die Aufgaben stets dann, wenn ich noch nicht ganz bereit dazu war“, was den Effekt erzielte, dass seine Tänzer sich weiterentwickelten und über sich hinauswuchsen. Cranko glaubte daran, dass jeder „einzigartige Fähigkeiten in sich trägt, die nur auf die Gelegenheit warten, sich entfalten zu können“ und er hatte ein untrügliches Gespür für individuelle Stärken. Er liebte seine Tänzer und „er regierte nicht mit Angst, sondern mit Liebe“, wie Haydée es formuliert. Durch sein Vertrauen in die Tänzer und ihre Fähigkeiten ließ er sie das Unmögliche vollbringen – tänzerisch und darstellerisch.
Strukturelle Verbesserungen
Über das Private hinaus setze sich der junge, engagierte Ballettchef innerhalb der Staatstheater für seine Tänzer ein, indem er das Ballett vom Opernbetrieb emanzipierte und die Bedingungen für sein Ensemble verbesserte. Die Tänzer mussten nicht länger vorrangig in Opernproduktionen mitwirken sondern präsentierten eigene Produktionen und Ballettabende, und ihr Gehalt wurde an die Gagen von Sängern und Schauspielern angepasst, womit Cranko – aus dem ersten Impuls, seinen Freunden helfen zu wollen – neue Maßstäbe für die deutsche Bühnenlandschaft setzte. Zudem gründete Cranko 1971 die erste staatliche Ballettschule der Bundesrepublik Deutschland, um den Nachwuchs für die eigene Compagnie langfristig sicherzustellen. Im Rückblick erscheint seine gezielte Ausbildung des tänzerischen Nachwuchses wegweisend, da einige Compagnien in Deutschland seinem Beispiel folgten.
Handlungsballette
Technisch und darstellerisch gefordert wurden junge wie erfahrene Tänzer in Crankos Handlungsballetten. Bei Romeo und Julia (1962), mit dem die Cranko‘sche Erfolgsära ihren Lauf nahm, zeigte Cranko, wie sich tänzerisches Handwerk und tiefgründiger Ausdruck in höchster Qualität verbinden lassen. In dem Ballett nach William Shakespeare – seinem Lieblingsautoren – bewies der Choreograph sein Talent, Handlung allein durch Bewegung nuanciert und schlüssig zu erzählen. Cranko schuf komplexe Charaktere, die in einer nachvollziehbaren Handlung verschiedene Lebensphasen und Gefühlsstadien durchlaufen. Dabei kam es Cranko nicht in erster Linie auf eine perfekte Tanztechnik an, sondern er legte Wert auf expressive Qualität, weshalb er unnachgiebig an Details und darstellerischen Feinheiten feilte. Die Genialität seiner Dramatik stellte Cranko ebenso in Onegin (1965; Neufassung 1967) nach Alexander Puschkins Versroman sowie in seiner Version von Schwanensee (1972) unter Beweis. Doch Cranko legte sich nicht auf ein Fach fest; er beherrschte das Tragische ebenso wie das Komische – ein Genre, an das sich wenige Choreographen überhaupt wagen. Vor allem in Der Widerspenstigen Zähmung (1969) nach Shakespeare zeigte er, wie sich Humor mit künstlerischem Anspruch in Einklang bringen lässt.

Alfredo Köllner, Micheline Faure, John Cranko
© Hannes Kilian, courtesy Stuttgarter Ballett/Staatstheater Stuttgart
Unterwegs in der Welt
Crankos Der Widerspenstigen Zähmung (1969) wird neben den beiden anderen groß angelegten Handlungsballetten Romeo und Julia (1962) und Onegin (1965; 1967) inzwischen nicht mehr ausschließlich vom Stuttgarter Ballett getanzt, denn die drei Ballette haben es ins Repertoire der bedeutendsten Ballettcompagnien der Welt geschafft; vor allem Onegin wird inzwischen als Klassiker des 20. Jahrhunderts betrachtet. Cranko hätte sich darüber bestimmt gefreut, da er internationales Ansehen als Gütesiegel empfand. Doch nicht nur seine Stücke, auch seine Compagnie schickte er in die Welt. Bereits in den 1960er Jahren ging er mit dem Ensemble auf Tournee, da er überzeugt war: „Eine Compagnie muss reisen, sie muss gesehen werden – von verschiedenem, verschieden reagierendem Publikum und die Tänzer müssen lernen, sich den verschiedenen Bühnen anzupassen.“ Das erste groß angelegte Gastspiel führte das noch gänzlich unbekannte Ensemble 1969 nach New York – Ballettmetropole und Kulturtempel der Zeit. Die Tänzer betraten die Bühne mit dem Wissen, dass sie sofort wieder heimkehren müssten, wenn das Publikum nicht begeistert applaudieren würde. Doch es wurde der Durchbruch! Das Publikum war begeistert, der Tanzkritiker der New York Times Clive Barnes rief das „Stuttgarter Ballett Wunder“ aus und die über Nacht berühmt gewordene Compagnie blieb für drei Wochen in New York, in denen sie 24 ausverkaufte Vorstellungen gab. Daraufhin wurde die Truppe zu Gastspielen in aller Welt eingeladen. Bis heute reist das Stuttgarter Ballett um den Globus: von Asien über europäischen Nachbarländern bis hin zu Nord-und Südamerika.
Zwischen abstrakt und narrativ
Neben abendfüllenden Balletten schuf Cranko eine Reihe kürzerer Choreographien: Jeu de Cartes (1965), Opus 1 (1965), Die Befragung (1967), Présence (1968) und Brouillards (1972) gehören u.a. zu den Stücken, mit denen sich Cranko zwischen den Polen des Abstrakten und des Erzählenden bewegte. Am einen Ende der Scala steht das witzige Jeu de Cartes, das von einem Kartenspiel inspiriert wurden ist. Am anderen Ende der Skala befinden sich symphonische Ballette wie L‘Estro Armonico (1963), Konzert für Flöte und Harfe (1966) oder Initialen R.B.M.E. (1972), in denen Cranko sich ganz auf die Musik einließ und sie in tänzerische Form kleidete. Zwischen abstrakt und erzählerisch changierend entspinnt sich dagegen Brouillards in dem das Publikum Szenen des Alltags, des Menschlichen und der Natur suggeriert bekommt. In dem letzten Stück vor seinem Tod – Spuren (1973) – behandelte Cranko das Thema Diktatur, Flucht und Neuanfang – ein gleichermaßen politisch wie bewegendes Stück zum Adagio aus Gustav Mahlers 10. Sinfonie.
Künstlerische Teamarbeit
Der nachhaltige Erfolg von Crankos Stücken liegt zwar hauptsächlich in seinen zeitlosen Choreographien begründet, aber auch Musik und Ausstattung tragen ihren Teil zum Gesamtkunstwerk bei. Cranko setzte auf Teamarbeit und, wie er sagte, „den Glauben der Zusammenarbeitenden aneinander“. Als er 1962 den damals erst 25-jährigen Jürgen Rose mit der Ausstattung seines Romeo und Julia-Balletts betraute, begann eine künstlerische Partnerschaft, die sich in Schwanensee (1972), Onegin (1965; 1967), Poème de l’extase (1970), Initialen R.B.M.E. (1972) und Spuren (1973) erfolgreich fortsetzte. Ebenso vertraute Cranko dem Komponisten und Dirigenten Kurt Heinz Stolze, der für ihn die Musik für Onegin und Der Widerspenstigen Zähmung (1969) arrangierte. Neben seinen eigenen choreographischen Arbeiten bot Cranko auch anderen Choreographen Freiraum – ja, zusammen mit der in Stuttgart ansässigen Noverre-Gesellschaft ermunterte er Tänzer mit vielversprechendem Interesse sogar, eigene Kreationen zu entwickeln, so etwa die heute berühmten Choreographen John Neumeier und Jiří Kylián, beides Tänzer unter Cranko in Stuttgart. Cranko war durch seine eigene Londoner Erfahrung bewusst, wie schwierig es für junge Künstler war, choreographisch zu experimentieren. Er war überzeugt: „Es muss eine wohltätige Organisation existieren, die bereit ist, Tänzern Probenmöglichkeiten und ein Theater zur Verfügung zu stellen. Ballett muss gesehen werden; es existiert nicht, wenn es nicht gesehen wird.“ Deshalb setzte er sich großzügig für andere – vor allem junge - Choreographen ein und etablierte 1961 zusammen mit Fritz Höver, Vorsitzender der in Stuttgart ansässigen Noverre-Gesellschaft, die erste „Junge Choreographen“ Plattform Europas.

© Hannes Kilian, courtesy Stuttgarter Ballett/Staatstheater Stuttgart
Leben
Cranko lebte so intensiv, wie er arbeitete, sodass er sich dem, was sein Interesse weckte, vollkommen widmete. Um seinen ungeheuren Wissensdurst zu stillen, versenkte er sich in Literatur und Musik. Mit dem gleichen ehrlichen Interesse begegnete er Menschen. Auf diese Weise hinterließ er nicht nur bei seinen engsten Mitarbeitern Eindruck, sondern auch bei der Stuttgarter Bevölkerung. Cranko war ein Star der Szene, der sich unters Volk mischte und durch seine extravagante Kleidung sowie seine offen gelebte Homosexualität auffiel. Cranko liebte es, die Nacht zum Tag zu machen und war bekannt dafür, in Lokalen zu feiern. Die Mitglieder der Compagnie waren eben auch seine Freunde, mit denen er zusammen ausging und Zeit abseits des Ballettsaals verbrachte. Doch im Privaten fand Cranko kein Glück und litt unter Einsamkeit. Er hatte depressive Phasen, war melancholisch und trank zu viel Alkohol. Doch dies ist nicht das, was seinen Weggefährten in Erinnerung geblieben ist. Sie erinnern ihn als warmherzigen Freund, als sensiblen Menschen und genialen Künstler, der immer ein offenes Ohr für sie hatte.
Crankos Erbe
Am 26. Juni 1973 verstarb Cranko plötzlich auf dem Rückflug von New York nach Stuttgart. Sein Erbe manifestiert sich nicht nur in seinen Choreographien, die bis heute einen Grundpfeiler des Repertoires des Stuttgarter Balletts bilden und aus dem internationale Ballettrepertoire nicht mehr wegzudenken sind sondern auch in die von ihm gegründete Schule, die Plattform für Jungen Choreographen die er mit ins Leben gerufen hat, die Emanzipation des Balletts vom Opernbetrieb und die Etablierung von Ballett als autarke, gleichberechtigte Kunstform in Deutschland.
Mehr zu John Cranko

John Cranko - Tanzvisionär
Hier erhältlich

Cranko
Drama / 2024
Regie: Joachim Lang
Hier anschauen